

EDITORIAL
Liedfestival Ruhr 2022: Botschaften

Liebe Besucherinnen und Besucher des Liedfestival Ruhr 2022, LIEDER ALS BOTSCHAFTEN — von, an und für Menschen; gesendet und entgegengenommen aus den unterschiedlichsten Perspektiven; über reale und imaginäre Entfernungen und Zeiträume hinweg: Diese Idee gab uns den Anstoß für unser diesjähriges Festivalmotto. In einer Welt, in der die Übermittlung und Verarbeitung von Informationen ein atemberaubendes Tempo, gleichzeitig aber auch ein stetig wachsendes Maß an strategisch beeinflusster Lenkung, Kanalisierung und Zielgerichtetheit erreicht hat, scheint die Frage, welche Botschaft eigentlich ein gelesenes, gesprochenes oder gesungenes Gedicht für uns bereithalten kann, aus der Zeit gefallen. Oder doch nicht? Hinter der inhaltlichen Offenheit der Lyrik, dem Reiz, nicht absolut verstehbar sein zu müssen, steht eine Kommunikationshaltung, die sich für uns metaphorisch mit dem Bild der Flaschenpost verbindet: Ausschlaggebend ist, etwas zu senden – ohne wirklich zu wissen und kontrollieren zu wollen, wer es empfängt, und wie es verstanden wird; einer Botschaft nachzuhorchen, auf eine Antwort warten, statt sie schon selbst zu geben, offen und gesprächsbereit zu sein und zu bleiben. Kunstlieder, vor allem diejenigen der romantischen Epoche gehören zu den Standards unserer kulturellen Bildung: berühmte Worte, vertont von berühmten Komponisten (seltener Komponistinnen), zelebriert im Liederabend in berühmten Konzertsälen. Bei aller Traditionsbewusstheit hat diese Praxis auch etwas Museales – die Frage nach den Botschaften, die uns die Kunstform Lied auch heute vermitteln kann und die über sie vermittelbar sind, betrifft eben nicht nur die vertonten Texte selbst, sondern auch den Rahmen ihrer Aufführung: Wie können Künstler und Künstlerinnen über das Lied mit dem Publikum kommunizieren? Wir möchten Sie gern zu einigen Experimenten einladen. Robert Schumanns Heine-Vertonungen zählen zum unverzichtbaren Kernrepertoire der Liederabende in aller Welt. Bei uns starten Timm Beckmann und Robin Grunwald mit ihrem Programm "Anspielungen" einen kabarettistischen Frontalangriff auf diese heilige Kuh traditioneller Kunstliedkultur – schonungslos, aber immer im Dienste der Sache. Hagen-Goar Bornmann, Tilman Wolf und Tomte Heer setzen sich in einem multimedialen Programm aus Liedern, Bildern und Texten mit der für uns alle so präsenten Frage nach der Verwundbarkeit der menschlichen Seele auseinander – "Du machst mich ganz verrückt!" Die Schwelle zum ,Lieder-Theater‘ überschreitet unser Education-Projekt "Melodia Ringelfuß auf geheimer Mission", das sich aus der Perspektive der jüngsten Konzertbesucher und -besucherinnen der Frage widmet, wie ein Lied eigentlich zur Botschaft werden kann. Die Erfahrung des Exils als Gegenteil von Heimat war und ist seit jeher Ausgangspunkt für das Entstehen von Kunstwerken. In Judith Hoffmanns, Johannes Helds und Doriana Tchakarovas szenischem Liederabend "Handwerk Hoffnung" verweben sich musikalisch-literarische Botschaften aus dem Kontext des amerikanischen Exils der 1930er- und -40er-Jahre mit der konkreten Geschichte zweier Menschen und treten außerdem in Dialog mit der Gegenwart in Form von Liedern des vielfach ausgezeichneten Komponisten Gordon Kampe, die als Auftragskompositionen für das Liedfestival Ruhr entstanden. Trotz alledem kommt uns der ,klassische‘ Liederabend nicht abhanden – allerdings in Repertoire und Zuschnitt doch etwas anders als gewohnt: 2018 vertonte Stefan Heucke für seinen Liederzyklus "Dennoch" ausgewählte Texte Hilde Domins. Erst das Exil der Dominikanischen Republik 1940–1954 ließ die 1909 in Köln geborene Hildegard Löwenstein zur Dichterin werden. Nach ihrem Tod 2006 hinterließ sie der Welt vor allem mit ihrer Lyrik das Vermächtnis einer Botschaft von tiefer Humanität und zugleich dringlicher Aktualität. Wir freuen uns ganz besonders, dass wir zur Eröffnung des Liedfestival Ruhr 2022 mit Anne Schwanewilms, Manuel Lange und Wolf-Dietrich Rammler ein Trio von internationalem Renommé gewinnen konnten, das uns mit Liedern Alban Bergs und Stefan Heuckes sowie rezitierten Gedichten Hilde Domins an die in unserer von Krisen und Bedrohungen geschüttelten Gegenwart so gewichtige Bedeutung des ,Dennoch‘ erinnert. Seien Sie willkommen im wunderschönen Residenzsaal des Borbecker Schlosses, lassen Sie sich treiben – und vielleicht auch überraschen, welche Botschaft Sie ganz persönlich erreichen wird. Judith Hoffmann (Künstlerische Leitung Liedfestival Ruhr) Martin Günther (Dramaturg Liedfestival Ruhr)
PROGRAMM
Samstag, 15. Oktober, 19:30
Handwerk Hoffnung
Geschichten von Heimat und Fremde
Szenischer Liederabend mit Werken von Erich Wolfgang Korngold, Hanns Eisler, Kurt Weill, Alma Mahler, Sergeij Rachmaninoff, Benjamin Britten, Alexander Zemlinsky, Arnold Schönberg und Gordon Kampe (UA)
Judith Hoffmann
Johannes Held
Doriana Tchakarova